„Die niedrigen Früchte sind geerntet“ – Diskussion über 20 Jahre EU-Osterweiterung

Was lässt sich aus der Entwicklung in Polen und Ungarn seit dem EU-Beitritt vor 20 Jahren lernen? Wie hat sich der Zustand der Europäischen Union seit ihrer bisher größten Erweiterung 2004 verändert? Um Antworten auf diese Fragen und einen Ausblick auf die Zukunft der Europäischen Union rangen am 30. April 2024 Forschende der Viadrina.

Einen Tag bevor in der Doppelstadt mit höchster politischer Prominenz, wehenden Fahnen, Volksfest und Festakt das Jubiläum der EU-Osterweiterung gefeiert wurde, widmeten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einem Seminarraum der Analyse. „20 Jahre EU-Mitgliedschaft – (Zukunfts-)Perspektiven aus Ostmitteleuropa“ war der Titel der Lunch Lecture, zu der das Viadrina Institut für Europastudien (IFES) und das Viadrina Center of Polish and Ukrainian Studies (VCPU) eingeladen hatten.

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Prof. Wojciech Gagatek lieferte als Gast von der Universität Warschau in seinem Impulsreferat zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Gesprächsrunde. In seinem Versuch, Lehren für aktuelle und künftige Beitrittskandidaten zur umreißen, wurde bereits deutlich, dass es keine einfach zu übertragenden EU-Rezepte gibt. Nicht nur, dass die Ausgangslagen in den verschiedenen Ländern große Unterschiede aufweisen, auch die Europäische Union hat sich in den vergangenen 20 Jahren verändert. Gagatek fragte: „Können wir von den Beitrittsländern weiterhin einen Konsens erwarten, wenn auch innerhalb der EU der Glaube an die liberale Demokratie nicht mehr dazugehört?“ Identitätspolitische Mobilisierungen und der Aufstieg rechter Parteien mit euro-skeptischen Programmen seien große Herausforderungen für die Union.

Prof. Dr. Timm Beichelt erklärte den Zustand der Europäischen Union aus einer emotionspolitischen Perspektive. Beichelt beschrieb die pro-europäische Gruppe innerhalb europäischer Gesellschaften als jung, mobil, gebildet und urban – da sei die Ähnlichkeit zwischen Paris und Berlin größer als beispielsweise zwischen Berlin und Teilen Mecklenburg-Vorpommerns. Diese Gruppe entwickle nach außen wie nach innen einen immer größeren Drang zu Abgrenzung. Dieses Bestreben zeige sich nach außen beispielsweise in der vehementen Ablehnung einer EU-Mitgliedschaft der Türkei. Nach innen richte sich die politische Emotion gegen „innere Abweichler“. „Es ist gut nachzuvollziehen, warum sich in Ungarn, Polen oder auch Ostdeutschland bestimmte Konflikte immer mehr verschärfen. Hier stellt sich eine Ingroup gegen den Rest im Land“, so Beichelts Beobachtung. Der eher national eingestellten Bevölkerung werde Rückständigkeit zugeschrieben, was die europäischen Gesellschaften auf lange Sicht belaste.

Daran, dass identitätspolitische Themen schon seit den Beitrittsdiskussionen ein hohes Mobilisierungspotenzial hatten, erinnerte Anja Hennig. Sie verwies dabei auf die Abtreibungsdebatte, die in Polen von Anfang an mit der EU-Frage verknüpft war und einer Sorge um die nationale Souveränität Ausdruck gab. Die auch in vielen anderen Fragen mitunter als Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen den Beitrittsländern von 2004 und der EU umschriebene Beziehung habe sich spätestens mit der Vollinvasion Russlands in der Ukraine geändert. Spätestens seit Februar 2022 sei klar, wie gerechtfertigt frühe polnische und baltische Warnungen vor einer allzu sorglosen Russlandpolitik gewesen waren.

Mit ihrer Expertise zu Ungarn und dem Abbau von Rechtsstaatlichkeit in EU-Staaten bereicherte Dr. Sonja Priebus die Diskussion. Sie erinnerte daran, dass mit Polen und Ungarn ausgerechnet die einstigen „Musterschüler in Sachen Modernisierung und EU-Integration“ mit ihrem Abbau von Demokratie und Rechtsstaat zu den größten Problemfällen geworden seien. Diese Entwicklungen hätten gezeigt, dass der innere Wandel, den die Staaten vor dem EU-Beitritt durchgemacht hatten, nicht irreversibel sei. Zudem hätten sie Defizite im politischen System der Europäischen Union gezeigt. „Die EU ist nicht in der Lage, die Werte, die sie von den Kandidaten einfordert, in den Mitgliedsstaaten zu gewährleisten“, betonte Sonja Priebus.

Auch wenn in der von Susann Worschech konzentriert geleiteten Runde Einigkeit über die grundsätzlich positive Bewertung der EU-Erweiterung von 2004 herrschte, so ließen sich Sorgen über den derzeitigen Zustand und künftige Entwicklungen der EU nicht verbergen. Fertige Rezepte für eine Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit, für die Überbrückung gesellschaftlicher Gräben und für einen – wenn überhaupt, dann fernen – Beitritt der Ukraine, hatte niemand zur Lunch Lecture mitgebracht. „Die niedrig hängenden Früchte sind geerntet, die weitere Aufholjagd wird vermehrte Anstrengungen erfordern“, zitierte Dr. Falk Flade eine journalistische Analyse der EU-Integration der vergangenen Jahrzehnte.

Text: Frauke Adesiyan
Foto: Heide Fest

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